Junge Studien zur Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie (JSR)
In der ersten Ausgabe der Vortragsreihe „Junge Studien zur Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie“ hielt Dr. Taner Aydin am 19.01.2021 an der Universität Bayreuth einen Online-Vortrag, in welchem er seine 2020 erschienene Studie „Gustav Radbruch, Hans Kelsen und der Nationalsozialismus“ präsentierte.
Im ersten Teil seines Vortrags zeigte Dr. Aydin im Hinblick auf Gustav Radbruch, dass die Erfahrung des Nationalsozialismus zwar zu einer Korrektur eines systemfremden Elementes seiner Rechtsphilosophie geführt hat, seine Nachkriegsschriften im Übrigen aber in einer Relation der Kontinuität zu seiner Vorkiregsphilosophie stehen. Im zweiten Teil ging Dr. Aydin der Frage nach, ob Hans Kelsen den nicht publizierten ‚Euthanasieerlass‘ Hitlers von 1939 als gültigen Rechtsakt anerkannt hätte. Diese Frage verneinte er – nicht aufgrund einer materialen Unrichtigkeit des Erlasses, sondern wegen dessen mangelnder Publikation und damit des Fehlens notwendiger Funktionsvoraussetzungen, die Kelsens Rechtsbegriff imamnent sind. Somit hätten sowohl Radbruch als auch Kelsen einzelnen NS-Rechtsakten die Geltung abgesprochen bzw. absprechen können – Radbruch vor allem aus materialen, Kelsen aus formal-begrifflichen Gründen.
Am 15.6.2021 hielt Dr. Lucia Scharpf einen Vortrag mit dem Titel „Umweltgerechtigkeit als Planfeststellungsverfahren - Eine Anwendungsethik auf Grundlage von Robert Alexys Rechtstheorie“. Der Vortrag fand über Zoom statt.
Abstract: Wann sind Infrastrukturanlagen gerecht im Raum verteilt? Kann der unendliche, zwangsfreie Diskurs Vorbild eines verwaltungsrechtlichen Verfahrens sein, das nach begrenzter Zeit durch verbindliche Entscheidung zum Abschluss gelangt? In Auseinandersetzung mit diesen Fragen verknüpft der Vortrag grundlegend-abstrakte Überlegungen der praktischen Philosophie und Rechtstheorie mit konkreten Fragen des Verwaltungsverfahrensrechts. Dass für diese Verknüpfung ein Bedürfnis besteht, zeigt nicht zuletzt die Diskussion um Umweltgerechtigkeit. Sie thematisiert Umweltschutz als soziales Problem, dessen Lösung maßgeblich durch die Verfahren des Planungsrechts beeinflusst wird. Im Vortrag wird erläutert, dass Robert Alexys Bedingungen des allgemeinen praktischen Diskurses als Vorbild für die Normierung des Planfeststellungsverfahrens dienen können. Ausgehend von Carsten Bäckers Feststellung, dass einige Diskursregeln in normtheoretischer Hinsicht Prinzipien darstellen, lautet die zentrale These wie folgt: Methodisch muss eine funktionsadäquate Übersetzung der Diskursbedingungen in das Planfeststellungsverfahren stattfinden, die den Charakteristika von Diskurs und rechtlichem Verfahren stärker Rechnung trägt als die Optimierung im herkömmlichen Sinn. Anhand der so gewonnenen, theoretischen Kriterien können geltendes Verfahrensrecht und Reformvorschläge im Wege der Rekonstruktion beurteilt werden.
Am 27.01.2022 hielt Dr. Alexander Stark einen Vortrag mit dem Titel „Die Rationalität der Interdisziplinarität - zum Verhältnis der Rechtswissenschaft zu anderen Disziplinen“. Der Vortrag fand über Zoom statt.
Abstract: Wie sollten Rechtswissenschaftlerinnen und Juristen mit Erkenntnissen der Naturwissenschaften, der Wirtschaftswissenschaften, der Psychologie, der Philosophie oder der Soziologie umgehen? Dürfen, können, sollen sie Erkenntnisse anderer wissenschaftlicher Disziplinen in ihren eigenen Argumentationsgang – die Rechtsdogmatik – aufnehmen? Welche Berechtigung hat der oftmals erhobene Einwand, ein auf Erkenntnisse anderer Disziplinen gestütztes Argument sei „rechtlich nicht relevant“, und welche Potenziale bleiben für eine rechtliche Relevanz außerrechtlicher Wissensbestände? Ausgehend von diesen Fragen geht es in meinem Vortrag um die interdisziplinären Potenziale der Rechtswissenschaft und deren Verhältnis zu anderen Disziplinen. Der erste Teil des Vortrags wird sich um die zugrunde liegende Frage drehen, was mit „Rechtsdogmatik“ gemeint ist. Ich argumentiere insoweit für ein deliberatives Verständnis der Rechtsdogmatik, mit der Folge, dass „Rechtsdogmatik sowohl eine deskriptive als auch eine normative Dimension beinhaltet. Im zweiten Teil veranschauliche ich die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Einordnung des Verhältnisses der Rechtsdogmatik zu anderen Disziplinen. Außerrechtliche Wissensbestände sind, so eine zentrale Konsequenz, prima facie dann von Relevanz und einbeziehungsfähig, wenn sie in Bezug auf verbleibende Handlungsspielräume – also Spielräume, die nicht durch rechtliche Gründe determiniert werden – normative Gründe für die Rechtsakteure darstellen. Vor diesem Hintergrund kommt Wissensbeständen anderer Disziplinen eine erhebliche normative Relevanz für die Rechtsdogmatik und das Recht zu. Interdisziplinarität erweist sich in diesen Kontexten nicht nur als eine erlaubte, sondern als die rationale Vorgehensweise.
Am 20.07.2022 präsentierte Dr. Svenja Behrendt ihre Dissertation „Entzauberung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung - Eine Untersuchung zu den Grundlagen der Grundrechte“.
Abstract: Das Volkszählungsurteil des BVerfG aus dem Jahr 1983 gilt gemeinhin als die Geburtsstunde des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. In der Entscheidung wurde es erstmals ausdrücklich anerkannt. Seither wurde es in zahlreichen bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen herangezogen und weiterentwickelt. Mittlerweile durchzieht es sowohl den Alltag als auch die gesamte deutsche Rechtsordnung. Die in der Literatur geäußerte, schillernde Kritik hat daran nichts geändert. Das liegt zum Teil an der Stoßrichtung der Kritik selbst: Verbreitet wird beispielsweise die eigentumsanaloge Konzeption kritisiert; man meint aber, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung beibehalten zu können, wenn man den Schutz auf freiheitsrechtlich gefährliche Verwendungszusammenhänge ausrichte und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung somit eher als ein Instrument zum Schutz von Freiheitsrechten verstünde. Die Diskussion um Konzeption und Konstruktion des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist zu einem großen Teil auch ein (regelmäßig gar nicht als solcher wahrgenommener) Stellvertreterkrieg: An dem informationellen Selbstbestimmungsrecht entzündet sich der seit jeher schwellende Streit um das „richtige“ Verständnis der Grundrechte, der Systematik der Grundrechte und ihrer Wirkungen und Funktionen, dem Freiheitsbegriff, objektiv- und subjektiv-rechtlichen Gehalten, dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft und – nicht zuletzt – dem Verständnis des allgemeinen Persönlichkeitsrechts selbst. Der Vortrag adressiert ausgewählte Themen und Probleme aus dem Diskurs um das vermeintliche (Grund-)Recht, diskutiert die Tragfähigkeit von Teilen der grundrechtswissenschaftlichen Kritik und äußert sich knapp dazu, was nach Ansicht der Verfasserin das eigentliche Kernproblem des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung darstellt. Jenes Problem ist der Grund für die „normontologische Nicht-Existenz“ des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Abschließend wird grob skizziert, inwiefern ein informationeller Grundrechtsschutz begründbar ist.
Am 23.11.22 hielt Dr. Manuel Fallmann einen Vortrag mit dem Titel „Sekundäre Lücken im Recht“, in dem er Inhalte aus seiner gleichnamigen Dissertation vorstellte.
Abstract: Gesetze bestehen in der Zeit und sind auch den Einflüssen der jeweiligen Zeit ausgesetzt. In vielen Bereichen scheint das Recht einer sich ständig verändernden Wirklichkeit hinterherzuhinken. Der Erlass eines neuen Gesetzes kann aber einige Zeit in Anspruch nehmen. Kann oder muss nun die dritte Gewalt die Gesetze verändern, während der Gesetzgeber untätig bleibt? Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Möglichkeit einer Anpassung der Rechtsordnung aufgrund gewandelter Umstände in seiner ständigen Rechtsprechung an und betont, dass es die Aufgabe der Rechtsprechung sei, den vom Gesetzgeber festgelegten Gesetzeszweck über die Zeit hinweg ›zuverlässig‹ zur Geltung zu bringen. In dem Vortrag soll gezeigt werden, dass das Diktum des Bundesverfassungsgerichts mit Hilfe der methodischen Kategorie der sekundären Lücke konkretisiert werden kann. Die sekundäre Lücke, die auf der anspruchsvollen Voraussetzung der Feststellbarkeit des (hypothetischen) Gesetzgeberwillens basiert, gibt dem Rechtsanwender ein Instrument an die Hand, mit dessen Hilfe er beurteilen kann, welche veränderten Umstände (bspw. technische Veränderungen, wirtschaftliche Veränderungen, Wertewandel) er berücksichtigen kann/muss und welche nicht. Ergänzt wird der Vortrag um einen Exkurs zu der Frage der Zulässigkeit von Rechtsfortbildungen auf Verfassungsebene, hier namentlich zu den Verfassungsanalogien.
Am 01.06.2023 setzte Gesine Voesch die Vortragsreihe mit ihrem Vortrag "Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit ‐ Eine prinzipientheoretische Analyse des allgemeinen Gleichheitssatzs" fort.
Abstract: Die Verhältnismäßigkeitsprüfung wirft im Kontext der Gleichheitsrechte zahlreiche Probleme auf. Sie reichen von der Frage der grundsätzlichen Möglichkeit einer gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung bis zu der Frage nach der genaueren Ausgestaltung derselben. Das Ziel der Dissertation besteht in dem Versuch, einen - wenn auch nur kleinen - Beitrag zur Lösung dieser Probleme zu leisten. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Prinzipi-entheorie. Diese geht von der grundlegenden Unterscheidung zweier Normarten, der von Re-geln und Prinzipien, aus und begreift sich als System der Implikationen dieser Unterschei-dung. Sie zeigt insbesondere, dass diejenigen Normen, deren Rechtsanwendungsform die Abwägung ist, spezifische Struktureigenschaften aufweisen. Das bedeutet, dass die Frage nach einer gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht ohne eine Auseinander-setzung mit der Struktur des Gleichheitssatzes erfolgen kann. Diesem Grundgedanken fol-gend, befasst sich der erste Teil der Arbeit mit normstruktuerellen Unterscheidungen, insbe-sondere mit der Unterscheidung von Regeln und Prinzipien. Auf dieser Grundlage werden im zweiten Teil sechs bedeutende Gleichheitsmodelle aus der Literatur analysiert und diskutiert. Im dritten und abschließenden Teil wird unter Anwendung der Prinzipientheorie und vor dem Hintergrund der Erkenntnisse des zweiten Teils ein umfassendes Prinzipienmodell des allge-meinen Gleichheitssatzes vorgeschlagen. Auf der Basis dieses Modells werden die Teilgrund-sätze einer gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung behandelt. Der Vortrag stellt die wesentlichen Erkenntnisse, die zur Struktur des Gleichheitssatzes und der Ausgestaltung der gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung gewonnen wurden, vor.
Am 18.10.2023 hielt Dr. Arnulfo Mateos einen Vortrag mit dem Titel "Die Rolle der formellen Prinzipien bei der Rekonstruktion der Abwägung zwischen nationalen und inkorporierten internationalen Grundrechten", der sich an seiner vor Kurzem erschienenen Dissertation orientierte.
Abstract: Die Inkorporation der internationalen Grundrechte in die nationale Rechtsordnung verlangt von den nationalen Richtern die Berücksichtigung/Anwendung der internationalen Vorschriften bei der Lösung von Fällen. Die Anwendung von parallelen Grundrechtskatalogen auf innerstaatlicher Ebene wirft häufig die Frage nach der richtigen Lösung auf, wenn beide Grundrechtskataloge zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Das Verhältnis von nationalen, internationalen und supranationalen Grundrechten ist durch eine Vielfalt von unterschiedlichen Interpretationen der Menschenrechte gekennzeichnet. Allerdings weist die Verflechtung von internationalen Instrumenten keine Systematisierung auf der internationalen Ebene auf. Da die internationalen Grundrechte durch ihre Inkorporation zu einem Teil des nationalen Rechts geworden sind, steht ihre Anwendung durch die nationalen Stellen und Organe nicht in Zweifel. Allerdings sind internationale Bestimmungen durch die Prinzipien des Völkerrechts geprägt und, in bestimmten Fällen, durch die Rechtsprechung der zuständigen internationalen Gerichtsbarkeit beeinflusst. Die internationale Ebene zielt auf die Erfüllung des Vertrags in den nationalen Rechtsordnungen ab. Die Hauptpflicht des Staates ist die Gewährleistung der Effektivität des Abkommens. Aber auf der nationalen Ebene sind die Richter nicht nur an die strikte Vollstreckung der nationalen Normen gebunden, sondern auch an die durch den Staat anerkannten internationalen Bestimmungen. Hiermit soll die Einbeziehung von internationalen Grund- und Menschenrechten in vier ausgewählten nationalen Rechtsordnungen vergleichend und kontrastierend dargelegt werden, nämlich: die Schweiz, Österreich, Deutschland und Mexiko. Aus diesen ausgewählten Rechtsordnungen werden grundrechtsdogmatische Modelle zur Erklärung des Verhältnisses zwischen nationalen und internationalen Grundrechten entwickelt und die Eigenschaften ihrer Abwägung auf innerstaatlichen Ebenen beschrieben. Schließlich lässt sich die Abwägung zwischen nationalen und inkorporierten internationalen Grundrechten durch die Anwendung der formellen Prinzipien rekonstruieren, indem die Bindung der Entscheidungen des demokratischen legitimierten Gesetzgebers und die Bindung der internationalen Präjudize der internationalen Gerichte in der Abwägung materiellen Prinzipien berücksichtigt werden.